Postmoderner historischer Roman – das klingt wie eine contradictio in adiecto. Tatsächlich werden wir uns in Europa noch gut daran erinnern, dass dieses Subgenre mit den Romanen des Italieners Umberto Eco lange vor Mason & Dixon bedient worden ist. Mason & Dixon stammt aus dem Jahr 1997 und ist, so wollen es meine Quellen, der einzige Roman Pynchons, der zwar von der Kritik gepriesen wurde, aber keinen einzigen Preis einheimste.
Pynchon war mir schon länger dem Namen nach bekannt. Warum auch immer (manchmal überkommen mich solche Anwandlungen) habe ich aber stets einen Bogen um ihn gemacht, bis dann vor rund zwei Monaten scheichsbeutel in unserem Forum einmal mehr auf ihn aufmerksam gemacht hat. Ich beschloss, diese Lücke doch einmal zu schließen. Von den Werken, die scheichsbeutel damals aufgezählt hatte, beurteilte er Mason & Dixon als ein wenig anstrengend, […] als Empfehlung mit Vorsicht zu genießen. Ich gehe davon aus, dass er mich gut genug kennt, um zu wissen, welchen Schalter er bei mir umlegen muss, und dass dieses mit Vorsicht zu genießen im Sinne einer paradoxen Intervention gedacht war.
Denn natürlich habe ich genau dieses Buch gekauft. Und, was soll ich sagen? Ich habe es nicht bereut. Es ist ein Roman wie eine Schatzkiste oder wie ein Wimmelbild. Traumartig rollt sich vor uns die Lebensgeschichte der beiden britischen Landvermesser Charles Mason und Jeremiah Dixon aus. Landvermesser nennt sie jedenfalls Wikipedia, aber Berufsbilder waren im 18. Jahrhundert bedeutend fluider als heute. Die beiden waren auch als Astronomen tätig und beobachteten zum Beispiel vom Kap der Guten Hoffnung aus im Auftrag des Royal Greenwich Observatory den Venus-Transit vor der Sonne. Mason macht sich zumindest im Roman auch Hoffnung darauf, einmal Direktor dieser Institution zu werden, Royal Astronomer. Er sollte es nicht schaffen.
Die beiden Männer sind tatsächlich weniger für ihre astronomischen Taten berühmt geworden als für eine Landvermessung. Sie wurden von den beiden in den nordamerikanischen Kolonien Pennsylvania und Maryland herrschenden Familien damit beauftragt, eine korrekte und schnurgerade Grenzlinie zwischen den beiden Territorien festzulegen. Was sie auch taten. Diese Grenze ist bis heute in den USA berühmt und wird nicht nur in der Liste der historischen Meilensteine der Ingenieurbaukunst geführt sondern ist auch im Bewusstsein der US-Amerikaner bis heute tief verankert, denn – wie der Teufel es wollte – sollte diese Mason-Dixon-Linie genannte Grenze nicht nur eine zwischen den beiden Kolonien (und späteren Bundesstaaten) werden sondern auch die zwischen den Nord- und Südstaaten, als die USA den Bürgerkrieg ausfochten um die Rechte der schwarzen Bevölkerung.
Dieses historische Wissen setzt Pynchon beim Publikum natürlich voraus. Der Roman folgt im Großen und Ganzen der Geschichte der USA ebenso wie der Lebensgeschichte der beiden Astronomen. Aber es ist, als ob wir diese Geschichte(n) träumen würden. Immer wieder geschehen seltsame Dinge. Schon auf Seite 20 meiner Ausgabe kommt ein sprechender Hund vor. Später wird eine sprechende mechanische Ente auftauchen, die sich dann in einen unsichtbaren Schutzgeist der beiden Landvermesser verwandelt um schließlich aus der Geschichte zu verschwinden. Ein französischer Jesuit wird zu einem Chinaman, einem Chinesen. Mason und Dixon sind bestenfalls kurzfristig verwirrt, setzen dann aber die Arbeit fort – ganz so, wie wir auch in einem Traum reagieren.
Die Geschichte wird in einem altertümlichen Englisch erzählt, das sich in Orthographie und Wortschatz an der englischen Sprache des 18. Jahrhunderts orientiert. Eigentlich wird die Story der beiden Mason und Dixon von einem Geistlichen seinen Nichten und Neffen in einem Blockhaus in den USA erzählt, aber immer wieder erleben wir, wie ein übergeordneter Erzähler das Ruder übernimmt und selber erzählt. Dazu kommen die Unterbrechungen der Zuhörenden, was oft zu einem wahren Tohuwabohu führt, wenn es darum geht, zu entscheiden, wer gerade spricht und in welchem Teil der Geschichte (gemeint sind hier sowohl der Roman wie die Historie) wir uns gerade befinden. Zwischendurch tauchen auch plötzlich moderne Begriffe bzw. Objekte auf. Manchmal aber verwendet Pynchon nur scheinbar moderne Begriffe. Das Sandwich, das einmal gegessen wird, existierte tatsächlich bereits. Und wenn Dixon sein Essen mit Ketjap nachwürzt, das ihm ein Freund aus „Indien“ gebracht hat, verwendet er ebenfalls eine in Europa bereits bekannte Sauce (auch wenn sie damals noch nicht die gleiche Substanz war, wie wir sie heute an unser Fast Food schmieren). Und wenn die beiden wetterbedingt eine Pause einlegen beim Vermessen und nach New York reisen, um dort am Broadway eine Art Musical anzuschauen (und weniger ehrenwerte Etablissements zu besuchen), so ist vielleicht der Theater Distrikt eine moderne Zutat, der Broadway jedenfalls existierte schon. (Was ich nicht weiß, und auf die Schnelle nicht herausgefunden habe, ist, ob die Selbstbezeichnung lensman der beiden Vermesser – nun ja: wegen der verwendeten optischen Instrumente – tatsächlich altertümliches Englisch ist oder eine Anspielung auf den so genannten Lensmen-Zyklus des US-amerikanischen Science Fiction-Autors E. E. „Doc“ Smith.)
Die beiden lernen bei ihrer Tätigkeit einige der berühmtesten Gründerväter der USA kennen. Allerdings stehen wir mit Mason und Dixon gerade noch in der Epoche vor der Unabhängigkeitserklärung. Dass es aber gärt, bekommen die beiden Briten mit. Und in gewisser Weise sehen sie auch in die Zukunft: Das Problem der Sklaverei wird ihnen – anders als den meisten Weißen in Nordamerika – sehr wohl bewusst. Und dies schon bei ihrer ersten gemeinsamen Tätigkeit, der Venus-Beobachtung am Kap der Guten Hoffnung. (Denn der Roman spielt nicht nur in Nordamerika.)
Ein Wimmelbuch, ein Rätselbuch, bei dem man sich stundenlang mit ein paar Sätzen vergnügen kann. Ich werde mich hüten, es zusammenfassen zu wollen. Wer mag: Die englischsprachige Version von Wikipedia hat es versucht. Ich für meinen Teil habe mich glänzend und intelligent amüsiert.
Anders gesagt: Doch, ja. Pynchon kann man empfehlen.