Michel de Montaigne: Essais. Livre troisiesme

Drittes Buch. Montaigne ist alt geworden. Zumindest fühlt er sich alt. (Er war, als das dritte Buch 1588 erschien, gerade mal 55 Jahre alt. Allerdings sollte er bereits vier Jahre später, also mit 59 Jahren, sterben. Dies aber nicht an Altersschwäche oder ähnlichem, sondern auf Grund einer infektiösen Atemwegserkrankung – er, der sich noch im dritten Buch seiner Essais etwas darauf zu Gute hält, dass er seit seiner Kindheit keinem Husten mehr zum Opfer gefallen sei.)

Montaigne also fühlt sich alt. Das hat auch Auswirkung auf Struktur und Themen des dritten und letzten Buchs seiner Essais. Während er zum Beispiel vor allem im ersten Buch – im zweiten ließ das bereits ein wenig nach – die angesprochenen Themen gern und häufig mit Anekdoten illustrierte, findet man im letzten Buch einige Essais, die gänzlich darauf verzichten. Und wenn er Anekdoten einflicht, so sind es nicht mehr elaborierte Kurzgeschichten. Es sind sozusagen nur noch Anspielungen auf Anekdoten; er tippt sie kurz an; er liefert im Grunde genommen nur noch das Skelett einer Anekdote.

Anderes ist sich gleich geblieben. Noch immer stehen wir vor der Tatsache, dass der Titel eines Essais nicht unbedingt mit dem (Haupt-)Inhalt in einem Zusammenhang steht. Noch immer ist es so, dass Montaigne abschweift – manchmal schon, bevor er überhaupt zum Thema gekommen ist. Ebenfalls nichts geändert hat sich daran, dass Montaigne seine alten Lateiner nach wie vor kennt und gerne – natürlich in deren Muttersprache – zitiert. (Griechische Autoren zitiert er wenig; und wo er es tut, zwar auch gern im Original, aber immer mit gleich beigefügter französischer Übersetzung. Manchmal allerdings zitiert er sie in lateinischer Version.)

Montaigne ist alt geworden, sagte ich. Und bei vielen ‚alten‘ Leuten (zum Beispiel auch bei Goethe, der allerdings ein paar Jahre älter wurde als Montaigne), so bei ihm: Er wird sich selber historisch. Das hat direkte Auswirkungen auf seine Essais: An die Stelle der Anekdoten ist für die Einführung in einen Essai die Introspektion getreten. Montaigne führt ins Thema ein, indem er nachdenkt – über sich (und die Welt). Der Tonfall ist melancholisch von Anfang an, und wird rabenschwarz gegen Ende, wo er noch einmal auf seine Erlebnisse im nach wie vor Frankreich verwüstenden Bürgerkrieg zu sprechen kommt. Montaignes Introspektion geht in vielen Fällen nahtlos über in eine Art Autobiografie. Nicht, dass er viel von sich preisgibt – dazu nimmt er sich selber zu wenig wichtig. Aber es sind nicht mehr historische Gegebenheiten, die – wenn auch nur in Form einer Anekdote – sein Thema illustrieren. Er ist es selber. In seinem Denken, in seinem Tun. Sogar zu einer kurzen Beschreibung des Turms, in dem sich seine Bibliothek befindet (die auch der Ort war, wo er seine Essais schrieb), reicht es.

Die Themen nun sind nun oft melancholisch, habe ich gesagt; meist sind es auch welche, über die er bereits in den vorher gehenden Büchern geschrieben hat. Da ist einmal mehr der Tod. Ich weiss nicht, ob man nun vom dritten Buch behaupten soll, dass er hier das berühmte Motto „Philosophieren heisst, sterben lernen“ erfüllt. Im Grunde genommen zählt er auch hier nur verschiedene Arten auf, wie man sterben kann. Vor allem den Tod im Krieg, in der Schlacht, wo der Soldat im Adrenalinschub (Montaigne kennt natürlich weder Wort noch Sache – aber er meint genau das) schon fast freudig in den Tod geht. Das ist ein Tod, den Montaigne offenbar schätzt, weil er dem Menschen keine Zeit lässt, über ihn nachzudenken. Da ist auf der anderen Seite der Tod des Sokrates und dessen Gedanken zum Sterben. (Montaigne zitiert aus dem Gedächtnis Platons Schilderung; obwohl er ansonsten offenbar auch viel von Xenophons Sokrates hält.) Es ist die bekannte Aussage des sterbenden Philosophen, dass er keine Angst vor dem Tod habe. Denn entweder werde man sich nach dem Tod an einem Ort finden, in dem auch alle anderen klugen und guten Männer sich aufhalten und man werde unter seinesgleichen philosophieren können – oder es werde da gar nichts sein, und der Tod sei dann wie ein großer, langer Schlaf.

Das Thema Sterben hindert Montaigne im Übrigen nicht daran, sich noch einmal in einem längeren Essai über die Ärzte und die Medizin aufzuhalten. Nicht gerade freundlich. Und noch einmal muss ich sagen: In Anbetracht des Standes der damaligen Heilkunst war es wohl wirklich gescheiter, sich im Krankheitsfall auf die Abwehrkräfte des eigenen Körpers zu verlassen, als auf einen Arzt zurück zu greifen.

Dann sind da Montaignes Auslassungen zur Ehe und zur Sexualität. Er scheint selber nie allzu sehr von seinem Sexualtrieb geplagt worden zu sein. Im Übrigen empfiehlt er, nicht aus Liebe zu heiraten, da eine Heirat immer auch der Fortpflanzung und damit der Fortsetzung der Familie, der Linie, diene. Zur Abschreckung erzählt er ein paar anekdotische Skizzen unglücklich verlaufender Liebesheiraten. Über seine eigene Ehe schweigt er sich weitestgehend aus. (Montaigne spricht zwar offen über sich, aber ungern über andere noch Lebende.)

Weitere (autobiografisch tingierte) Themen sind zum Beispiel Essen und Trinken (das heißt: Montaignes Ess- und Trinkverhalten). Kein Kochbuch natürlich, keine Weinkarte. Montaigne war in Essen und Trinken recht moderat, auch wenn er sich des Schlingens anklagt. Nur, dass er lieber alleine speist, als in Gesellschaft. (Wie er offenbar überhaupt ‚im Alter‘ die Gesellschaft zusehends meidet.)

Einen Essai über das Erkennen des Charakters aus der Physiognomie eines Menschen finde ich noch erwähnenswert. Die Ausgangssituation ist klassisch platonisch: Aus einem hässlichen Gesicht wird auf einen hässlichen (das heißt, auf Grund der platonischen Gleichung von schön = gut: schlechten) Charakter geschlossen. Es folgt das übliche Gegenbeispiel des Sokrates, und die Anekdote, dass dieser gesagt haben soll, dass es durchaus seine Richtigkeit habe mit seinem schlechten Charakter, er sich aber sozusagen ‚umerzogen‘ habe. Das nun will ihm Montaigne nicht glauben – er verwirft also die ganze Kunst der Physiognomik. (Ein weiteres Gegenbeispiel ist für ihn offenbar sein früh verstorbener Freund Étienne de la Boétie, der, wenn ich Montaigne richtig verstehe, auch eher hässlich gewesen sein muss, aber der beste Mensch, den er je gekannt hat.)

Zusammenfassend kann man sagen: Das dritte Buch der Essais ist das persönlichste und insofern beeindruckend, als man selten einen Menschen finden wird, der offen und schonungslos über sich selber berichtet, ohne sich gleich selber gänzlich zu verteufeln. Der sich auch einmal positiv darstellt, ohne sich gleich in den Himmel zu heben. Alles in allem ist das dritte Buch wohl tatsächlich dasjenige, das die Leserin / der Leser sich vornehmen kann und wird, wenn es darum geht, aus Montaigne ‚leben zu lernen‘. Oder sterben – quant à ça.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 18

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