Stanisław Lem: Summa technologiae

Verschiedene primitiven Lebewesen ähnelnden Formen auf einem Haufen (wohl ein Sinnbild der Evolution, von der der Text spricht); links und rechts ein weißer Rand. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Technologie ist das wichtige Wort dieses theoretischen Werks des polnischen Schriftstellers Stanisław Lem. Er legt hohen Wert darauf, dass dieses Buch nicht Science Fiction sein soll – nicht einmal in dem Sinn, dass hier mit großer Phantasie mögliche technische Entwicklungen geträumt werden. Im Gegenteil: Was Lem will, ist eine Interpolation der gegenwärtigen Technik in die Zukunft, die realistisch sein soll – also abgestützt auf Tendenzen, die sich bereits zeigen. Gleichzeitig grenzt sich Lem aber im Vorwort Zwanzig Jahre später ab von der ebenfalls in jener Epoche auf einem neuen Höhepunkt stehenden ‚Futurologie‘.

(Dazu eine kleine Zeitleiste: Lem schrieb an seiner Summa ab Ende der 1950er, war damit 1961 fertig, und das Buch erschien 1964 auf Polnisch. 1976 erschien die deutsche Übersetzung von Friedrich Griese im Insel-Verlag in Frankfurt am Main. Lem hat ab den 1960ern viele seiner Werke zuerst im Westen veröffentlicht, weil die Zensurbehörden Polens und der DDR anfingen, ihm das Leben schwer zu machen. Erst 1980 erschien eine Lizenzausgabe des West-Textes im Verlag Volk und Leben in Berlin. Für diese Ausgabe schrieb Lem das neue Vorwort, das ich oben bereits erwähnt habe. Ebenfalls wurde ein Nachwort von Herbert Hörz hinzugefügt, das sich durch erfreuliche Absenz von ideologischen Wertungen auszeichnet. Diese ostdeutsche Ausgabe habe ich mir vor ein paar Jahren antiquarisch besorgt.)

Dass die Grenzen zwischen der in den 1960ern aufblühenden Futurologie und Lems Summa technologiae nicht so klar verlaufen, wie es der Autor postuliert, darf wohl in Anbetracht ähnlicher Voraussetzungen und Ziele nicht wundern.

Eine Art Wundertüte ist dafür der Text selber. Lem gibt in seinem nachträglichen Vorwort zu, dass er ihn im Grunde genommen ohne genauen Plan verfasst hat. Das führt zu – aus heutiger Sicht – unnötiger Ausführlichkeit, so, wenn er zum Beispiel die technisch-physiologischen Voraussetzungen seiner Phantomatik im Detail ausführt. Unnötig ist diese, weil er bei der Beschreibung seiner Phantomatik von der Technik ausgeht, die Ende der 1950er ‚erhältlich‘ war. Er purzelt immer wieder in genau die Falle, in die zu fallen er der zeitgenössischen Futurologie vorwirft: Er nimmt die gerade zur Verfügung stehenden Technik und extrapoliert sie ins Riesige. Sein unbedingtes Vertrauen darin, dass die Technik bzw. deren Weiterentwicklung die Probleme der Menschheit lösen kann, wirkt 60 Jahre später bereits naiv. (Ja, wir werden unsere Problem ohne Technik nicht lösen können. Aber ob nun die von ihm so gepriesene Atomkraft tatsächlich eine Lösung darstellt, oder nicht nur ein neues Problem, ist heute nicht mehr so klar wie Ende der 1950er, wo auch ein Asimov davon träumte, dass jedes Fortbewegungsmittel in einer nahen Zukunft mit Atomkraft betrieben sein werde, jedes Gerät mit einem separaten kleinen Atommeiler.)

Die Summa technologiae wird im Übrigen immer wieder dafür angeführt, dass Lem in ihr die so genannte ‚Virtual Reality‘ ‚erfunden‘ oder ‚gefunden‘ habe. Tatsächlich zeigt seine Phantomantik in die Richtung der ‚Virtual Reality‘. Aber Lem geht viel weiter als alles, was aktuell unter dem Begriff ‚Virtual Reality‘ verstanden wird. Bei ihm sind alle Sinne in dieser neuen Welt involviert, nicht nur Augen und Ohren, auch die Nase, die Zunge, die Haut und selbst die Muskeln. In der Phantomatik befinden sich die Menschen tatsächlich in jener virtuellen Realität – die entsprechend denn natürlich auch so (unendlich) groß sein muss wie die eigentliche Realität. Davon sind wir heute noch meilenweit entfernt.

Ein anderes Mal diskutiert Lem längere Zeit die Möglichkeit, einen Menschen, bzw. seinen Bauplan über eine Telegrafenleitung an einen anderen Ort zu transportieren. Ihn interessieren hier die dabei auftauchenden ethischen Probleme. Ist jener Mensch am neuen Ort wirklich identisch mit dem am alten? Falls der alte am alten Ort ‚aufgelöst‘ wird, ist er gestorben, und was wir am neuen Ort haben, ist ein neues Individuum? Was aber, wenn er am alten Ort weiterlebt? Was, wenn durch einen Fehler der Bauplan doppelt übermittelt wird? Was, wenn der Bauplan nicht über eine Leitung sondern über Rundfunk ausgestrahlt wird und an Tausenden oder gar Millionen von Orten neue Individuen zusammen gesetzt werden? Welcher von ihnen ist noch das Original? Lem hat hier die ‚Erfindung‘ des Beamens diskutiert, ein paar Jahre bevor Star Trek das Konzept weltweit bekannt gemacht hatte. (Und er hat dessen ethischen Implikationen auch bedeutend gründlicher diskutiert als es die auf ‚Action‘ getrimmte US-amerikanische Serie je tat. Der Text wurde erst sehr viel später (und nur teilweise) ins Englische übersetzt; dass Lem Star Trek beeinflusst haben könnte, ist praktisch unmöglich – ein Beweis dafür, dass ähnliche Ideen oft zur gleichen Zeit herumschwirren.)

Kann man, soll man dieses Buch von Lem noch lesen? Es ist oft geschwätzig, und in vielem ist es heute überholt. Aber dann gibt es wieder Stellen, in denen wir auch heute noch Lems Phantasie und Vorhersagekraft bewundern müssen. Also lautet meine Antwort: Ja, unbedingt lesen.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 9

2 Replies to “Stanisław Lem: Summa technologiae”

  1. Guten Tag,
    was meint Lem mit seiner „Imitologie“? das Verhältnis zwischen Mathematik und realer Welt? Und resultierenden (technischen) Konsequenzen?
    VG TA

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