Jean-Yves Tadié: Marcel Proust II

Schwarze Tinte auf weißem Papier: Ausschnitt aus einer für die Kartonbox verwendeten Zeichnung der französischen Künstlerin Christelle Téa (geb. 1988), das Schlafzimmer Marcel Prousts darstellend. Wir sehen ein Gemälde mit Prousts Porträt, das an der Wand hängt, rechts davon ein Paravent mit einer idyllischen Landschaft.

Jean-Yves Tadié ist der Doyen der französischen Proust-Forschung, und die vorliegende Biografie zu Marcel Proust gilt nach wie vor als Standardwerk. Sie ist mit rund 1400 Taschenbuch-Seiten sehr umfangreich, weshalb sie vom Verlag Gallimard für die Collection Folio auf zwei Bände aufgeteilt wurde, mit den Nummern 3213 und 3214. Erstmals erschien sie 1996, vor mir liegt die überarbeitete Version von 2022.

In seiner Biografie räumt Tadié implizit oder explizit mit dem einen oder anderen Vorurteil auf, die das Leben und Arbeiten Marcel Prousts betreffen. So haben wir zum Beispiel doch fast alle (jedenfalls ich), wenn wir über Proust sprechen, im Hinterkopf das Bild eines jungen Mannes, der chronisch krank und geschwächt in seinem Bett liegt, die Nacht zum Tag macht und fieberhaft (im eigentlichen Sinn des Worts) an der Suche nach der verlorenen Zeit schreibt. Nun, diesen Proust gab es. Aber das ist nicht der ganze Proust sondern nur der in seinen letzten Jahren.

Und selbst hier stimmt es nicht ganz, wie Tadié im zweiten Teil seiner Biografie zeigt. Es gab immer mal wieder längere Momente, wo es ihm besser ging und er praktisch jeden Abend ins Ritz essen ging – jedenfalls nachdem er eine recht lange Zeit der Trauer um seine verstorbene Mutter hinter sich gebracht hatte. Danach ging er zunächst sogar wieder auf Reisen – Belgien und die Niederlande waren seine fernsten Ziele (nachdem er Venedig noch mit seiner Mutter besucht hatte). Und selbst als er krank war und im Bett lag, besuchten ihn immer wieder Freunde*). Jean Cocteau war ein solcher häufiger Besucher, der dann auch in den Genuss kam, vom Autor persönlich vorgelesene Passagen aus dem ‚work in progress‘ Die Suche nach der verlorenen Zeit zu hören.

Auch sonst traf er sich mit der einen oder anderen berühmten Persönlichkeit. Ernest Hemingway war nicht der einzige, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Joyce oder mit Pablo Picasso an einem Tisch saß. Denn nun fing Proust an, sich einen Namen in der Literaturszene Frankreichs zu machen. 1919 erhielt er den Prix Goncourt für À l’ombre des jeunes filles en fleurs, nicht zur Freude aller Kritiker**), die lieber einen heute unbekannten Rivalen als Sieger gesehen hätten. Proust, so ihre allgemeine Meinung, sei bereits veraltet und könne nicht mit den aktuellen Strömungen der Literatur mithalten. Sein Konkurrent nämlich hatte einen Roman eingereicht, der das Leben der französischen Soldaten im Ersten Weltkrieg schilderte und nur so vor Chauvinismus troff. Proust, zu seiner Ehre sei’s gesagt, verweigerte sich jedem Patriotismus. (Er verweigerte auch, mit Hinweis auf seinen Gesundheitszustand, jeden Kriegsdienst.)

Damals war die für den Gewinn beim Prix Goncourt ausbezahlte Summe noch beträchtlich. (Heute ist die Preissumme ja mehr nominell; der Preis ist begehrt, weil er im französischen Sprachraum nach wie vor dafür sorgt, dass das ausgezeichnete Buch sich in großen Mengen verkaufen kann.) Marcel Proust konnte das Geld gut gebrauchen. Er hatte zwar von seinen Eltern eine beträchtliche Summe geerbt, war aber ein Spieler – und dies nicht nur im Kasino (dort auch) sondern vor allem an der Börse, wo er des öfteren hochspekulative Aktien kaufte, die mehr oder weniger in Totalausfällen endeten. (Eine Nomination für den Nobelpreis wurde zwar offenbar unter seinen Freunden diskutiert, kam meines Wissens aber nicht zu Stande. Nun, Proust hätte auch dieses Geld für seine Spekulationen eingesetzt.)

Ansonsten könnte man bei Teilen dieser Biografie fast von einer Vorstufe für eine kritische Ausgabe der Suche nach der verlorenen Zeit sprechen, da Tadié vor allem die Frühstufen des Romans ausführlich vorstellt. Selbst als Proust sich bereits bewusst war, dass ihm die Zeit davon lief, konnte er sich nicht enthalten, die ihm zur Korrektur geschickten Druckfahnen noch einmal so gründlich zu überarbeiten, dass de facto ein neues Buch da stand. Diesen Teil von Tadiés Biografie sollte man fast mit einer daneben liegenden kritischen Ausgabe lesen.

Fazit: Tadiés Buch ist materialreich, ausführlich und interessant. Wer sich für Proust interessiert, sollte es gelesen haben.


*) Auch so ein Bild, das uns Prousts semi-autobiografischer Roman À la recherche du temps perdu implizit vermittelt: der Ich-Erzähler wird dort dargestellt als junger Mann ohne nähere Freunde, immer auf der – zunächst vergeblichen – Suche nach Anschluss an die bessere Gesellschaft, mit den unmöglichsten Liebesbeziehungen. Während letzteres stimmt (Tadié spricht davon, dass Prousts einzige Form, in der er Liebe empfinden oder zeigen konnte, die einer exorbitanten Eifersucht gewesen sei – wie sie ja auch in seinem Roman so präsent ist), hat Proust durchaus jede Menge (auch heterosexueller, auch nicht in der Literaturszene verankerter) Freunde. (Es ist für mich jedes Mal so verblüffend, wie Freunde – wenn auch ohne Namen – plötzlich in La prisonnière erwähnt werden, während der Ich-Erzähler vorher und nachher keine zu haben scheint.)

**) Fun fact: Unter diesen befand sich auch Rachilde, die in den 30 Jahren seit ihrem Skandalroman Monsieur Vénus die konservativen Ansichten ihres Vaters nun doch übernommen hatte.

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